Ursula Poznanski: Cryptos [Rezension]
Kerrybrook ist Janas Lieblingswelt: Ein idyllisches Fischerdorf mit viel Grün und geduckten Häuschen. Es gibt Schafe, gemütliche Pubs und vom Meer her weht ein kühler Wind. Manchmal lässt Jana es regnen. Meistens dann, wenn es an ihrem Arbeitsplatz mal wieder so heiß ist, dass man kaum mehr atmen kann.
Jana ist Weltendesignerin. An ihrer Designstation entstehen alternative Realitäten, die sich so echt anfühlen wie das reale Leben: Fantasyländer, Urzeitkontinente, längst zerstörte Städte. Aber dann passiert ausgerechnet in Kerrybrook, der friedlichsten Welt von allen, ein spektakuläres Verbrechen. Und Jana ist gezwungen zu handeln… (Inhaltsangabe © Loewe Verlag)
Unsere Erde in der Zukunft. Jana Pasco designt Welten, in denen die Menschen ihre Fantasien und ihre Bedürfnisse ausleben und so tun können, als wäre alles noch in bester Ordnung. Man kann in Venedig, das längst im Meer versunken ist, auf den Kanälen fahren oder in einer Jane-Austen-Welt beim Kaffeeklatsch auf einer Landpartie die Beziehungen der Nachbarn erörtern. Für Wagemutigere gibt es Fantasywelten mit Drachen oder man reist in die Kreidezeit zu den Dinos. Damit es immer spannend bleibt und die Bevölkerungszahlen in den Welten stabil bleiben, lassen sich Jana und ihre Kolleg:innen an den Designstationen immer wieder etwas Neues einfallen. Doch dann gibt es in Janas Lieblingswelt Kerrybrook einen Zwischenfall und es verschwinden Menschen aus dem System. Jana kann sich das nicht erklären und reist selbst nach Kerrybrook. Sind die von einem Pfeil durchbohrten Tauben, die unerklärlicherweise überall auftauchen, eine Warnung oder ein Hinweis?
Klimawandel, Erderwärmung, Überschwemmungen, Waldbrände, Orkane, Dürre… Wie leben wir, wenn unsere Erde nicht mehr bewohnbar ist? Ursula Poznanski beantwortet die Frage in ihrer neuen Jugenddystopie mit einer Welt, die im Dämmerschlaf liegt, bis es gelingt, die Erde wieder bewohnbar zu machen. In virtuellen Welten leben, lieben und arbeiten die Menschen, verdienen virtuelles Geld und Privilegien, mit denen sie andere Welten bereisen und erforschen können.
Die meisten Menschen liegen in sogenannten Wohndepots in Kapseln, umhüllt von einem Funktionsanzug, angeschlossen an Energieversorgung, versorgt mit Nahrung durch Schläuche. Muskelabbau? Kein Problem, der Anzug ist so gestaltet, dass man die Muskeln, die man in den virtuellen Welten benutzt, auch tatsächlich trainiert. Der Energieaufwand und die Nahrungsversorgung und somit die Belastung für die Umwelt ist auf diese Weise weitaus geringer zu halten als die derer, die in der realen Welt dafür sorgen, dass alles funktioniert. Es gibt Trupps, die Bäume anpflanzen, die Energieversorgung aufrechterhalten oder eben virtuelle Welten kreieren wie Jana. Ein wenig hat mir die Beschreibung gefehlt, wie es wirklich ist für diejenigen, die nicht in virtuelle Welten flüchten können, die gebraucht werden für den Schutz und Wiederaufbau der Erde.
Dass Ursula Poznanski nicht nur Thriller, sondern auch spannende Dystopien schreiben kann, hat sie bereits mit der wunderbaren Eleria-Trilogie bewiesen. Sie beschreibt das Leben in den virtuellen Welten so anschaulich und detailverliebt, dass ich immer wieder den Wunsch verspürte, ebenfalls in diesen Welten meine Zeit verbringen zu können. Meine jüngste Tochter hätte es sicherlich nach Cretaceous gezogen, um endlich mal echten Dinos zu begegnen. Sollte man einem Tyrannosaurus Rex begegnen, wacht man ja ohnehin nur in seiner Schlafkapsel wieder auf und kann sich anschließend in ein neues Abenteuer begeben. Trotzdem würde ich mich vermutlich eher für die friedlichen Welten entscheiden. Wobei mich Whodunnit ebenfalls sehr reizen würde, auch wenn man da durchaus mal als Mordopfer fungieren muss, damit die anderen was zum Ermitteln haben.
Die unterschiedlichen, sehr kreativ und offensichtlich mit großem Spaß entworfenen Welten stellten für mich einen großen Reiz dar, weshalb ich es auch sehr genossen habe, dass die Handlung fast ausschließlich hier stattfindet. Auch die Figuren, allen voran Jana, haben mir sehr gut gefallen. Jana tappt erst mal lange im Dunkeln und will zunächst einmal nur den Fehler finden, der ihre Welten so angreifbar macht. Nach und nach aber wird sie immer kreativer und setzt sich mit Biss und Beharrlichkeit für ihre neuen Ziele ein.
Ursula Poznanski spielt auch in “Cryptos” mit Sprache, vor allem bei den Weltenbezeichnungen, und es gibt auch kleine Rätsel und einiges an Symbolik, sodass man immer herausgefordert ist, eigene Überlegungen anzustellen. Ich habe “Cryptos” in jeder Hinsicht sehr genossen und freue mich, sagen zu können, dass Poznanskis neues Jugendbuch meinem Liebling “Erebos” in Nichts nachsteht.
Über das Ende habe ich lange nachgedacht. Ist es ein befriedigendes oder gar ein gutes Ende? Kann es so weitergehen? Hier habe ich definitiv noch Diskussionsbedarf. Überhaupt beschäftigt mich seit Beginn des Buches die Frage, wie “nützlich” der Einzelne für die Gesellschaft ist, wenn man in einer Kapsel liegt und sich nur virtuell betätigt. Entspricht das unserer Dienstleistungsgesellschaft, wo man zum Beispiel im Falle einer Pandemie schaut, wer “systemrelevant” ist? Wenn jemand Lust auf einen Austausch hat, bin ich gern dabei!
© Tintenhain
Leseprobe
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weitere Bücher von Ursula Poznanski (Rezensionen sind ggf. verlinkt)
Thriller für Erwachsene
Blutkristalle (Kurzthriller)
Vanitas – Schwarz wie Erde (Band 1)
Vanitas – Grau wie Asche (Band 2)
Vanitas – Rot wie Feuer (Band 3)
Fremd (mit Arno Strobel)
Anonym (1) (mit Arno Strobel)
Invisible (2) (mit Arno Strobel)
Fünf (Kaspary/Wenninger Band 1)
Vögel (Kaspary/Wenninger Band 2)
Stimmen (Kaspary/Wenninger Band 3)
Schatten (Kaspary/Wenninger Band 4)
Jugendbücher
Shelter
Cryptos
Aquila
Elanus
Erebos
Erebos 2
Layers
Saeculum
Thalamus
Die Verratenen (Eleria 1)
Die Verschworenen (Eleria 2)
Die Vernichteten (Eleria 3)
Kinderbücher
Buchstabendschungel
Die allerbeste Prinzessin
Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Verlag: Loewe Verlag GmbH (12. August 2020)
ISBN-10: 3743200503
ISBN-13: 978-3743200500
Altersempfehlung: ab 14 Jahren
Preis: € 19,95 [D]
Rezensionsexemplar
Moin. Mich ärgert es, dass mir das mit den “Schläfern” nicht aufgefallen ist! Deren systemrelevanz wird zwar am Ende beantwortet, aber auch ich glaube, dass keine Gesellschaft so uneigennützig ist die nur durchzufüttern ohne Benefit. Hm.
Klingt außergewöhnlich. Hol ich mir!
Gute Idee! 😀
Danke für die Rezension. Ich mag die Bücher der Autorin sehr!
Ich auch. Ich würde sie glatt als Lieblingsautorin bezeichnen, auch wenn ich mich da nicht gern einschränke. 😀
Hallo Mona,
mir ist das Buch irgendwie total durch die Lappen gegangen. Erst bei den Neuerscheinungsposts der letzten zwei Wochen ist es mir aufgefallen. Ich muss es mir so schnell wie möglich anschaffen!
Liebe Grüße,
Nicole
Hallöchen Mona,
“Cryptos” ist echt in aller Monde und mit wahnsinnig kreativen Ideen gespickt, so wie es aussieht.
Gesellschaftskritik gehört zur Dystopie dazu. Wie nützlich man ist oder nicht, sollte man selbst entscheiden bzw. ist niemand für nichts und wieder nichts da.
Zum Thema Systemrelevanz: Gewisse Bedürfnisse möchte eine Gesellschaft immer gestillt haben, das ist anders nicht machbar. ABer auch hier kann jeder Mensch dabei sein, wenn man ihn nur lässt und er das möchte.
Liebe Grüße
Tina
Auch mir hat Cryptos sehr gut gefallen, es hält einen in Atem. Später plätschert es ein bisschen dahin, aber dann geht es ja auch darum, Probleme zu lösen. Und das dauert halt seine Zeit. Erschreckend fand ich, dass Konzerne die Regierung abgelöst haben. Von solchen Szenarien hört man ja auch in der Realität immer öfter. Wer nicht mithalten kann, kann ja gehen… aber was mich an Cryptos Ratlos zurückließ, war die Frage, wie gut es ist, nichts zu leisten und auf eine bessere Welt zu warten. Und? Wie können die Bewohner sich das leisten?
Ja, genau das ist auch der Punkt, über den ich mich gewundert habe. Der Großteil der Bevölkerung liegt tagträumend, Abenteuer erlebend in rundumversorgenden Kapseln, deren Energieverbrauch eines der größten Probleme der Erde ist. Ist schon ein bisschen nicht ganz zu Ende gedacht. Hat aber trotzdem Spaß gemacht.