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Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse [Rezension]

Cover Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens
Cover © Hanser Verlag

Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen. Delia Owens erzählt intensiv und atmosphärisch davon, dass wir für immer die Kinder bleiben, die wir einmal waren. Und den Geheimnissen und der Gewalt der Natur nichts entgegensetzen können. (Inhaltsangabe © Hanser Verlag)

Für die kleine Kya bricht die Welt zusammen, als ihre Mutter beschließt, den gewalttätigen Vater und die Familie zu verlassen. Ohne ein Wort, ohne sich umzudrehen. Auch die Geschwister halten das von Armut geprägte, perspektivlose Leben im Marschland North Carolinas der 50er Jahre nicht mehr aus und suchen ihr Glück in der Ferne. So bleibt Mädchen mit seinem Vater zurück, einem Vater, der kaum anwesend ist und der sich nicht kümmert. Die Siebenjährige lernt sich selbst zu versorgen und mit der Einsamkeit zu leben. Ihre Freunde sind die Tiere der Salzwiesen und der Sümpfe, die sie so gut kennt, wie sonst niemand hier. Für die Einheimischen wird Kya zu dem “Marschmädchen” – geheimnisvoll, unabhängig und wild. Als viele Jahre später der Sonnyboy des Ortes ermordet aufgefunden wird, sind sich alle einig, dass das Marschmädchen dahinter stecken muss.

“Der Gesang der Flusskrebse” hat mich von der ersten Seite an mit einer leicht beunruhigenden, faszinierenden Spannung gefesselt. Das Schicksal der kleinen Kya geht direkt ins Herz und es ist fast unerträglich, wie das Mädchen seinen Alltag allein meistert und gleichzeitig gibt es so viel Hoffnung. Kya lernt aus ihrer Umgebung, von den Tieren und den Naturgewalten, vielleicht mehr als sie in der Schule hätte lernen können. Neben Menschen, die das verwahrloste Kind verachten, gibt es immer wieder auch solche, die sich des Mädchens auf eine leise, unaufdringliche Art annehmen.

Kya wird zum Marschmädchen, wird eins mit der Natur. Die Landschaft, die Besonderheiten der Flora und Fauna im Marschland, wird von Delia Owens faszinierend und so unglaublich bildhaft beschrieben, dass man sich darin verlieren kann.

Sie beschleunigte jetzt sachter, steuerte um die alte umgestürzte Zypresse herum, tucktucktuck, an dem Ästeberg des Biberbaus vorbei. Dann nahm sie mit Kurs auf die Laguneneinfahrt, die fast von Gestrüpp verdeckt wurde. Sie duckte sich unter den tief hängenden Ästen riesiger Bäume hindurch und glitt langsam über hundert Meter weit durch Dickicht, wo entspannte Schildkröten von umgekippten Baumstämmen glitten. Ein Teppich aus Entengrütze trieb auf dem Wasser und färbte es ebenso grün wie das Laubdach, wodurch ein smaragdener Tunnel entstand. Schließlich öffneten sich die Bäume, und sie gelangte an einen Ort mit weitem Himmel und hohen Gräsern und dem Krächzen von Vögeln. Der Ausblick eines Kükens, dachte sie, wenn es endlich seine Schale durchbricht. (aus: Der Gesang der Flusskrebse, S. 58)

Ist nicht der Handlungsstrang, der Kya von dem kleinen Mädchen zur jungen Erwachsenen begleitet, schon spannend genug, so wird parallel in den Jahren 1969/70  in einem Mordfall ermittelt. Chase Andrews, ein beliebter junger Mann der Gemeinde, mit dem Kya zeitweise eine Beziehung hatte, wird tot aufgefunden. Für die Polizei ist schnell klar, dass es sich nicht um einen Unfall handeln kann und nur allzu gern sind Sheriff Jackson und Deputy Joe Purdue bereit, dem Dorfklatsch um das Marschmädchen zu glauben. Ein Prozess, der mehr auf Indizien hin als aufgrund von Beweisen geführt wird, bewegt die Gemeinde und so mancher bekommt einen Spiegel vorgehalten.

Delia Owens ist ein ergreifender, tiefgründiger und atmosphärisch dichter Roman gelungen, der mich noch lange beschäftigt hat. Als ich das Buch beendet hatte, verspürte ich den Drang, gleich noch einmal von vorn zu beginnen, da ich noch lange nicht loslassen und Kya und die faszinierende Tier- und Pflanzenwelt der Marsch verlassen wollte. “Der Gesang der Flusskrebse” ist mein Highlight des Jahres und es wird sicher nicht so schnell ein Buch damit messen können. Dieses Buch vereint Kriminalroman, Liebesroman, Gerichtsdrama und Naturroman unter einem Dach und ich liebe das Ende – trotz oder gerade wegen der kleinen Überraschung.

© Tintenhain


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Einzelband
Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Verlag:
hanserblau (22. Juli 2019)
Originaltitel: Where the Crawdads Sing
Übersetzung aus dem Amerikanischen:
Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
ISBN-10: 3446264191
ISBN-13: 978-3446264199
Preis: 22,00 € (D)
Bücherei
Cover Der Gesang der Flusskrebse von Delia Owens
Cover © Hanser Verlag

12 Kommentare

  1. Schönen guten Morgen!

    Ich hab das Buch ja schon eine Weile auf meiner Wunschliste. Vom Klappentext her ist es ja eigentlich nicht so mein Beuteschema, aber irgendwas zieht mich hier einfach total an. Auch hab ich mittlerweile einige Rezensionen dazu gelesen und meine Neugier und Faszination nimmt immer mehr zu!
    Es klingt definitiv nach einem ganz besonderen Buch und ich freu mich schon sehr drauf, es zu lesen! 🙂

    Liebste Grüße, Aleshanee

    1. Liebe Aleshanee,

      ich hatte vorher schon so manches Mal von dem Buch gehört und irgendwie hat es mich nie angesprochen. So richtig war mir auch nicht klar, worum es gehen sollte. Selbst beim Bücherstammtisch wurde ich nicht neugierig. Nun bin ich so unendlich dankbar, dass wir das Buch im Lesekreis gelesen haben. Sonst hätte ich es wohl noch sehr, sehr lange vor mir hergeschoben. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Nach Joe Lansdale könnte ich mir das gut vorstellen, weil bei Delia Owens auch dieses Bild, die Atmosphäre (wenn man das so sagen kann) der Südstaaten so gut eingefangen wird wie bei ihm.

      Liebe Grüße
      Mona

      1. Ich hab mir schon gedacht, dass es vielleicht von der Atmosphäre her ähnlich ist (wenn auch sicher nicht vergleichbar) auch wenn es 20 Jahre später spielt.
        Von der Zeit her, also 30er – 60er Jahre lese ich ja normalerweise echt gar nichts in der Richtung, aber das waren zwei Bücher, die mich total neugierig gemacht haben!

        Mit Lansdale bin ich gestern fertig geworden und das war wirklich ein ganz großartiges Buch! Das war sicher nicht mein letztes von ihm 🙂
        Der Gesang der Flusskrebse hat mich vom Gefühl her einfach sofort angesprochen – darauf höre ich immer gerne wenn es um Bücher geht, damit lieg ich dann meistens richtig ^^

  2. Hallo Mona,

    auch nach vielen Monaten beschäftigt mich dieses Buch innerlich noch immer.
    Und um eine für mich befriedigende Rezension hinzulegen, werde ich das Buch noch einmal lesen müssen.
    Ich habe ein wenig das Gefühl, dass ich beim ersten Mal lesen nicht wirklich alles, also wirklich alles, aufsaugen konnte. Es war emotional einfach so viel zu bewältigen.

    Liebe Grüße,
    RoXXie

    1. Liebe RoXXie,

      es ist gar nicht so einfach dieses Buch in einer Rezension einzufangen. Das merke ich allein daran, dass ich vorher bereits Rezensionen gelesen hatte. Keine davon hat es offensichtlich geschafft, mich zum Lesen des Buches zu verführen. Es war tatsächlich ein schwammiges “Ja, das könnten wir mal lesen, soll ja gut sein”-Ding im Lesekreis. Nur eine von uns hatte es vorher schon gelesen und sie war begeistert. Warum, konnte ich aber auch nicht fassen. Ist wohl ein Buch, das man einfach selbst erlesen muss.

      Liebe Grüße
      Mona

  3. Hallo Mona

    Das Buch klingt wirklich richtig gut, wenn auch sehr traurig. Es reicht ja nicht, dass Kya so eine traurige Kindheit hatte. Als Frau muss sie sich auch noch verdächtigen lassen. Ich habe tatsächlich schon mal ein Buch beendet und gleich wieder von vorne angefangen.

    Ich bin glücklich darüber, dass ich es mir als günstiges Angebot auf den Reader geladen habe. Danke für deine sehr ergreifende Vorstellung.

    Liebe Grüße,
    Gisela

  4. Ich schreibe eigentlich hier keine Rezensionen zu Büchern, aber: Es hat mich nicht nur gefesselt, es gehörte seit langem mal wieder, zu den für mich sehr seltenen Büchern, bei denen ich extra langsam lese weil ich immer wieder auf so wunderschöne Sätze stoße über die ich nachdenken und die ich noch ein 2. oder 3. Mal lesen muss. Und ich las es langsam, damit ich nichts verpasse und der Genuss länger anhält. Sonst gehöre ich eher zur Spezies “Bücherverschlinger”.
    Für mich eines der besten Bücher die ich seit längerem gelesen habe, ich zehre immer noch davon und denke darüber nach.

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