Tintenhain – Der Buchblog

Harriet Reuter Hapgood: Ein bisschen wie Unendlichkeit [Rezension]

Cover (c) Fischer Verlage

Als die Ferien anfangen, möchte Gottie eigentlich nur unter dem Apfelbaum liegen, in die Sterne schauen und über das Universum nachdenken. Sie kennt jede Theorie zu Raum und Zeit und kann alles mit einer Formel erklären.

Außer, warum ihr bester Freund Thomas, der vor einigen Jahren weg­gezogen war, plötzlich wieder auftaucht. Warum niemand ihre Verzweiflung über den Tod ihres Großvaters Grey versteht. Und warum sie in Flashbacks ganze Szenen ihres Lebens erneut durchlebt. Verliert sie den Verstand oder wird sie wirklich in die Vergangenheit versetzt? Und wie kann sie in der Gegenwart bleiben – bei Thomas, dessen Küsse ihr Universum verändern? (Klappentext)

Gottie, die eigentlich Margot H. Oppenheimer heißt, ist in tiefer Trauer um ihren geliebten Großvater Grey. Der stets jung gebliebene Alt-Hippie fehlt ihr in jeder Minute und die Erinnerungen an ihn drohen sie immer wieder zu überwältigen. In diesem Sommer wird sich sein erster Todestag jähren, und plötzlich passieren mehrere Dinge auf einmal. Gotties Bruder Ned ist für die Ferien aus der Uni nach Hause gekommen und damit auch sein bester Kumpel Jason, mit dem Gottie im letzten Sommer ihre erste, leider nur heimliche, Liebe erlebte. Und heimlich hat sich Jason nach einem Sommer voller versteckter Küsse und verstohlener Blicke auch wieder aus ihrem Leben geschlichen. Sie verlassen, wie schon ihre Mutter, auf deren Grabstein Gotties Geburtsdatum steht und für die der Großvater zwar ein liebevoller Ersatz war, aber eben nur ein Ersatz. Sie verlassen, wie vor fünf Jahren schon ihr allerbester Freund, ihr symbiotischer Kindheitsvertrauter Thomas Althorpe – inzwischen nur noch eine Blutsbrüderschaftsnarbe auf der Handfläche und ein unvollendeter Kuss. Von einem Tag auf den anderen zog die Nachbarsfamilie nach Kanada und hinterließ bei Gottie ein tiefes Loch. Doch plötzlich tritt auch Thomas wieder in Gotties Leben und zieht ausgerechnet in Greys verwaistes Zimmer ein, wo Gottie beim Aufräumen auf Greys alte Tagebücher stößt, die ihr ein Tor in die Vergangenheit öffnen.

Gotties Leben gerät wieder einmal aus den Fugen und dieses Mal sogar aus den Fugen der Zeit. Das Physikgenie beschäftigt sich nicht nur in seiner Freizeit mit Unendlichkeitstheorien, Quantenphysik, Wurmlöchern und dem Urknall, sondern erlebt eine verrückte Aneinanderreihung von Zeitfluktuationen und zeitfenstergleichen Wurmlochabenteuern. Die Weltschmerz-Theorie nach Margot C. Oppenheimer ist geboren und hilft Gottie ihre Trauer zu akzeptieren und damit abzuschließen und endlich wieder am Leben teilzuhaben.

“Ein bisschen wie Unendlichkeit” kommt mit der Schwüle eines Sommers daher. Drückend nicht nur die Hitze, sondern auch die Gedanken an die Verluste, die Gottie erlitten hat und die ihr ganzes Leben zu bestimmen scheinen. Die Trauer um Jason, um den Großvater, die verlorene Freundschaft zu ihrer besten Freundin Sof, um den Kindheitsfreund Thomas und um die viel zu früh gegangene Mutter, die Gottie nie gekannt hat. Der stets abwesend scheinende Vater ist hier auch keine Hilfe. Doch es wäre kein besonderer Sommer, wenn nicht plötzlich die Zeit aus den Fugen geraten würde und Gottie durch wie aus dem Nichts auftauchende Wurmlöcher Zeitreisen in ihre Vergangenheit machen würde.
Während Gottie grübelt, wie das physikalisch möglich sein könnte und sich in Formeln und Theorien verstrickt, merkt sie kaum, dass ihr Leben sich verändert.

Hapgoods Sprache ist einerseits knapp, in kurzen Sätzen gehalten, doch immer wieder auch poetisch anklingend. Gotties Gedanken, die in Ich-Perspektive dem Leser nahegebracht werden, sind extrem verkopft und gleichzeitig gefühlsverstrickt. Die Szenen wirken immer wieder wie ein surreales Schauspiel. Zeitweise konnte ich Gottie kaum folgen, dann wiederum gerät die Geschichte in ruhigere Gefilde, in die man sich fallen lassen kann. Doch wenn Gottie sich in ihren physikalischen Formeln verheddert, kommt es mir vor wie poetisches Kauderwelsch. Es klingt toll, aber ich verstehe kein Wort. Dabei würde ich behaupten, mich bereits mit Zeitreisen beschäftigt zu haben. Andreas Eschbach zum Beispiel erklärt in “Der Jesus-Deal” ganz wunderbar anschaulich die dazugehörigen physikalischen Theorien.
Sehr irritiert hat mich dann auch, dass Gottie zwar nach einer logischen, physikalischen Erklärung für ihre Zeitsprünge sucht, dann aber sämtliche Logik fahren lässt und Paradoxa in Kauf nimmt. Das zerreißt in meinen kritischen Augen am Ende den ganzen Aufbau des Buches.

“Ein bisschen wie Unendlichkeit” ist ein sehr berührendes Jugendbuch und wenn man sich auf die ein bisschen verrückten Zeitsprünge einlassen kann, macht es Spaß, Gotties Welt wieder ein bisschen gerade zu rücken und mit ihr ein Stückchen Liebe zu erfahren.

© Tintenhain

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Harriet Reuter Hapgood: Ein bisschen wie Unendlichkeit

Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: FISCHER KJB; Auflage: 1 (23. Februar 2017)
Übersetzung aus dem Englischen: Susanne Hornfeck
ISBN-10: 3737340331
ISBN-13: 978-3737340335
Altersempfehlung: ab 14 Jahren
Preis: € 16,99 [D]
Rezensionsexemplar

Cover (c) Fischer Verlage

11 Kommentare

  1. Ich glaube, mir würde besonders der Teil mit der Physik, dem Universum und den Zeitreisen gefallen! Solche Bücher lieeebe ich über alles! Danke (:

  2. Pingback: Eine philosophische Geschichte über das Leben: Ein bisschen wie Unendlichkeit / Harriet Reuter Hapgood
  3. Total gespannt verfolge ich die Rezensionen zu diesem Buch. Während Ally (MagicAllyPrincess BookDreams) sehr geschwärmt hat, ist Patchi (Patchis Books) ja förmlich ausgeflippt vor Enttäuschung. Dieser Titel scheint die Gemüter zu spalten, für mich ist er sicher nichts. Danke für die schöne Rezi!
    Liebe Blubbergrüße
    Anka

    1. Ich habe auch eine sehr begeisterte Rezension bei Bini (Literatwo) gelesen. Mir kommt das Buch leider ein wenig zu gewollt vor. Tolle Sprache, eine schöne Idee, um das Thema “Trauer” aufzugreifen und in einen anderen Kontext zu bringen – dabei aber leider zu inkonsequent. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Autorin selbst nicht ganz wusste, wie sie da wieder raus kommt. 😀
      Zum Ausflippe bringt es mich jedenfalls nicht – weder in die eine noch in die andere Richtung. Falls du dir noch eine eigene Meinung bilden möchstest, kann ich es dir gern zuschicken.

  4. Hallo liebe Mona,
    „Ein bisschen wie Unendlichkeit“ steht nun schon seit einer ganzen Weile auf meiner Wunschliste, aber ich kann mich bislang einfach nicht dazu durchringen, es auch in den Einkaufswagen zu schieben. Gehe ich allein vom Klappentext aus, wäre das Buch auf jeden Fall etwas für mich, aber mittlerweile habe ich so viele unterschiedliche Meinungen gelesen, dass ich doch ein wenig unsicher geworden bin. Ich lasse wohl den Zufall entscheiden und packe das Buch auf meine Geburtstagswunschliste. 🙂
    Ganz liebe Grüße
    Maike

    1. Ja, das Buch ist etwas zwiespältig. Einfach weglesen konnte ich es jedenfalls nicht, dazu war es vom Schreibstil her aber auch inhaltlich nicht ganz einfach. Ein bisschen abgedreht und auch gewollt literarisch. Kann auch anstrengend sein. 😀

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