Karin Kalisa: Sungs Laden [Rezension]

Als der kleine Minh seinen Vater Sung, einen vietnamesischen Ladenbesitzer im Prenzlauer Berg, um ein “Kulturgut aus Vietnam” für die “Weltoffene Woche” seiner Grundschule bittet, schickt ihn dieser zu seiner Großmutter Hiên. Diese holt eine alte, geschnitzte, in Decken gewickelte Holzpuppe aus ihrem Verschlag, und erweckt sie in der Schulaula zu neuem Leben, nicht ahnend, dass damit das Szeneviertel binnen eines Jahres völlig auf den Kopf gestellt werden würde und Urberliner und ehemalige Vertragsarbeiter und ihre Nachkommen zu einer eingeschworenen Gemeinde zusammenwachsen. (Inhaltsangabe)
“Sungs Laden” ist ein Buch, auf das ich mehrmals gestoßen werden musste, bis ich es endlich las. Dann habe ich es innerhalb eines Tages weggeatmet, trunken vor Glück und begeistert darüber, wie einfach doch Völkerverständigung und Integration gelingen könnten, wenn man mal einen Blick über den Tellerrand wagt und Neues probiert.
Mit dem “Kulturgut aus Vietnam”, einer Wassermarionettenpuppe, erzählt Großmutter Hiên ihre eigene Geschichte, die Geschichte einer vietnamesischen Vertragsarbeiterin, die in den 80er Jahren in die DDR kam und ein Kind in Vietnam zurücklassen musste, weil Kinder in den Arbeitsverträgen nicht vorgesehen waren. Die Puppe mit ihren fließenden Bewegungen zieht die Menge in ihren Bann. Eine Lehrerin überlegt, ob man mit dieser Art Marionetten nicht noch mehr erreichen kann, und beginnt mit Hilfe eines älteren Vietnamesen Puppen zu bauen, die bald im ganzen Kiez zu finden sind. Die Ordnungshüter entdecken die Vielseitigkeit der nón lás, der vietnamesischen Kegelhüte, und Großmutter Hiên unterrichtet bald abends nicht nur Vietnamesen im Deutschen, sondern auch Deutsche im Vietnamesischen. Die Reisebüros werben mit Reisen nach Vietnam und die Buchhändlerinnen beschweren sich bei den Verlagen, warum es eigentlich so wenig vietnamesische Literatur gibt. Die Bewohner im Kiez entdecken einander neu, Vorurteile werden abgebaut und man entdeckt, dass Offenheit ganz neue, interessante Wege öffnet.
Natürlich ist “Sungs Laden” ein Sozialmärchen – leider. Aber wäre es nicht wunderbar, wenn die Welt so einfach sein könnte? Wer sich auf diese so leichte, einfache Weltsicht einlassen kann, wird an dem Buch sein wahres Vergnügen finden. Ganz nebenbei entdeckt auch der Leser die vietnamesische Kultur, sei es die faszinierende Schrift mit den vielen kleinen Häkchen und Pünktchen, die ich hier leider nicht wiedergeben kann, oder die Faszination der uralten Tradition des Wasserpuppentheaters. Spannend sind auch die Gedankenexperimente zur Nutzung der sogenannten Affenbrücken. Wie wäre es, wenn man die Verkehrsströme Berlins einfach überwandern könnte? Wie aus dem Nichts tauchen diese Brücken aus Bambusstangen und Hanfseilen auf, verbinden Häuser und verschwinden wieder über Nacht. Was bleibt, ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl Abgründe und Trennendes zu überwinden und vor allem miteinander ins Gespräch zu kommen. Für mich sind die Affenbrücken eine der schönsten Metaphern.
Karin Kalisa erzählt leise und beschwingt. Kleine Geschichten, kurze Einblicke in die Leben der Menschen im Kiez. Sie nimmt mit auf eine Reise in ein Berlin, wie es sein könnte und bringt eine fremde Kultur, die bereits nebenan wohnt, in die Wohnzimmer der Leser. Der Grundton bleibt immer positiv, ob es nun um den Vietnamkrieg geht, das Leben als Gastarbeiter in der DDR oder um die sozialistische Vergangenheit der Bürohengste – jeder schafft es, am Ende mit dem Wind der Veränderung doch etwas Gutes aus seinem Leben zu machen. Das macht letztendlich, neben den Einblicken in die vietnamesisch-deutsche Kultur, die Faszination und das Märchenhafte des Romans aus. Man könnte ständig weinen vor lauter Glücksgefühlen. Es ist wunderbar, wenn sich mal alles zum Guten wendet und jeder etwas für sich mitnehmen kann. Wie schön könnte die Welt doch sein, wenn man sie ließe.
Was bleibt, ist der Gedanke, dass es sich lohnt mal über den Tellerrand zu schauen, weil es so viel Faszinierendes zu entdecken und erleben gibt. “Sungs Laden” ist ein zauberhaftes Buch über Veränderung, Annäherung und Weltoffenheit – man möchte am liebsten dabei gewesen sein!
© Tintenhain
weitere Rezensionen von Bloggern
Literatwo
Papiergeflüster
Fräulein Julia
Buchrevier
Gebundene Ausgabe: 255 Seiten
Verlag: C.H.Beck (14.07.2015)
ISBN-10: 3406681883
ISBN-13: 978-3406681882
Preis: € 19,95 [D]
Büchereiauch als Taschenbuch

Zauberhaft geschrieben. Du erweckst mit deinen Worten das bereits gelesene Buch wieder neu.
Danke dafür – Bini
Das klingt richtig gut trotz des Etiketts ‘Sozialmärchen’. Aber manchmal braucht man eben Märchen, um Erkenntnisse und Einsichten zu gewinnen.
LG, Ingrid
Nicht zu fassen, daß es schon wieder so lange her ist. Dabei hätte ich sicher gesagt, mir ist das Buch erst vor ganz kurzem aufgefallen (und dabei habe ich es bis heute noch nicht gelesen). Werde es auf jeden Fall gleich auf die Wunschliste setzen. Das erhöht jedenfalls die Chancen.
LG, Rabin
Mir ist das Buch auch schon früher aufgefallen, aber erst nachdem meine Kollegin begeistert darüber erzählt hat, habe ich es mir dann im Vorbeigehen aus der Bücherei geholt. Ich überlege gerade, ob ich es nicht dem Büro als Weihnachtsgeschenk kaufe. Dann können es alle lesen! 😀
Huhu,
hmmm, ist wohl kein Buch für mich, aber kommt auch die “Verschenk-ich”-Liste.
Danke für den Tipp.
LieGrü
Elena
#litnetzwerk
Ich werde es auf jeden Fall auch verschenken.
Hey,
das Buch musste nun direkt mit auf den Wunschzettel. Es ist mir zwar schon oft im World Wide Web begegnet, aber bisher war mir nicht so richtig klar, dass es dabei um Gastarbeiter in der DDR geht. Naja, und als ehemaligen Jungpionier interessiert mich das dann doch sehr 😉
Liebe Grüße
Diana
Hallo Diana, genau so erging es mir auch. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich es auch schon früher gelesen. Musste mir eben erst meine Kollegin erzählen. 😀
Ich war auch Pionier und hatte eigentlich gar keinen Kontakt zu Vietnamesen, obwohl in der Nähe ein ganzer Straßenzug von (nicht nur) ihnen bewohnt wurde. Wir hatten aber auch keine vietnamesischen Schulkameraden. Jetzt ahne ich, warum.
LG
Mona