Anthony McCarten: funny girl [Rezension]
Das letzte gemeinsame Buch der “Buchschätzer” traf genau meinen Geschmack. Ich habe mich sehr gefreut als die Wahl auf “funny girl” von Anthony McCarten fiel, denn ich hatte bereits eine Buchvorstellung in unserer Tageszeitung dazu gelesen und war ganz angetan. Ein Buch, das allen Erwartungen standhalten konnte.
Die schüchterne Azime, 20, aus kurdischer Familie wächst in London auf. Ost und West, Islam und Säkularismus, Burka und bauchfrei – in Azimes beiden Welten gibt es klare Regeln, wie sie zu sein hat und was sie darf. Zwischen den Welten knirscht es gewaltig. Ihre kurdische Schulfreundin verliebt sich und kommt auf mysteriöse Weise ums Leben. Azime beginnt nachzuforschen. Als jedoch kurz darauf Terroranschläge in der U-Bahn Hunderte Opfer fordern, weiß sie, dass sie ihre Stimme erheben muss. Auf ihre Art. Heimlich besucht sie einen Comedy-Kurs, schlüpft in eine Burka und tritt auf: als weltweit erste muslimische Komikerin. Der Auftritt ist wie Sprengstoff. Ihre Familie verstößt sie, die englische Presse feiert sie als Sensation, im Internet hagelt es Morddrohungen. Es wird ernst. Und doch immer komischer. Und ganz anders, als man jetzt denkt. (Inhaltsangabe © Diogenes)
In einem heruntergekommenen Stadtteil von London stürzt ein junges, kurdisches Mädchen aus einem Hochhaus. Für die 20-jährige Azime ist schnell klar, dass es sich um einen Ehrenmord handeln muss, denn sie kannte das Mädchen aus der Schule und wusste von ihrem italienischen Freund. Azime ist selbst kurdische Muslimin und muss sich immer wieder Freiräume erkämpfen. Ihre Mutter kann nicht verstehen, dass ihre hübsche Tochter keinen Mann findet und setzt alle Hebel in Bewegung, um diesen unhaltbaren Zustand zu ändern. Im Möbelgeschäft des Vaters hilft Azime gelangweilt im Büro aus – wenn sie nicht gerade über neue Witze nachdenkt. Denn Comedy ist Azimes Ventil: Unter einer Burka versteckt, verblüfft sie ihr Publikum mit treffenden Witzen über ihre eigene ethnische Gemeinschaft und wird schnell zum Geheimtipp der Szene. Doch es gibt auch Neider und Azime ist schnell den Anfeindungen ihrer muslimischen Mitmenschen ausgesetzt.
In klarer Sprache und kurzweilig unterhaltsam lässt Anthony McCarten Azimes Welt sich vor den Augen des Lesers entfalten. Dabei scheint der Autor nicht nur gut recherchiert zu haben, auch gelingt es ihm, die kurdisch-muslimische Parallelgesellschaft in London nicht nur vorurteilsfrei, sondern auch weitestgehend neutral darzustellen. Natürlich ist ihm anzumerken, dass er mit “funny girl” eine Botschaft transportieren will und auch kritisch Position bezieht. Dennoch gelingt es ihm, dabei keine Schwarz-Weiß-Malerei zu betreiben. Kleine Einblicke in das Familienleben und die Gedanken der Eltern und Geschwister zeigen nicht nur, warum sich althergebrachte (und vielleicht schon überholte) Traditionen auch im neuen Heimatland halten bzw. sogar verstärken, sondern auch, wie sehr die Familienmitglieder in ihren eigenen gesellschaftlichen Strukturen gefangen sind.
Azimes Comedy-Einlagen sind vielleicht nicht immer gelungen (was durchaus an der Übersetzung liegen kann), jedoch zeichnen sie überspitzt ein Bild ihrer Lebensweise samt der Reglementierungen, unter denen die junge Frau zum Teil sehr leidet. Lustiger sind beinahe noch die Situationen, in denen sich Azime mit viel Witz und Charme aus unangenehmen Situationen laviert. Wenn es zum Beispiel darum geht, potenzielle Heiratskandidaten zu vergraulen, sind ihrem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt. Letztendlich ist es auch die Leichtigkeit in der Erzählweise, die dem Leser die Wahl lässt, ob er das Buch als Unterhaltungslektüre liest oder einen tieferen Blick hinter die Kulissen wagen möchte.
Fazit: “funny girl” ist ein kurzweiliger Roman, der sich intensiv mit der Funktionsweise ethnischer Communitys, sozialer Kontrolle und auch der Rolle der Frau in muslimischen Gesellschaften mit viel Humor und ohne erhobenen Zeigefinger nähert.
Das Buch bot unserem Lesekreis jede Menge Diskussionsstoff – schon lange haben wir nicht so intensiv und ausdauernd ein Buch besprochen. Interessant waren hier auch die Überlegungen, inwieweit unsere deutsche Gesellschaft ebenfalls noch vermeintlich archaische Strukturen aufweist.
© Tintenhain
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: Diogenes; (26. Februar 2014)
Original: funny girl
Übersetzung aus dem Englischen: Manfred Allié
ISBN-10: 3257068921
ISBN-13: 978-3257068924
Preis: 21,90€ [D]
Kauf
Auf das Buch freue ich mich wirklich sehr, denn ich habe McCarten als Autor wirklich schätzen und lieben gelernt. Vielen Dank für die schöne Rezension!
Hab das Buch schon auf meine Liste setzen wollen, nachdem ich die Rezension bei der Bücherphilosophin gelesen hatte, aber was mich total enttäuscht hat, ist, dass es das Buch gar nicht auf Englisch gibt! Hätte gern das Original gelesen. Naja, mal sehen 🙂
Ja, das habe ich auch feststellen müssen. Hast du eine Ahnung, warum?
Ich kann mir vorstellen, dass das Original witziger ist.
Die Bücherphilosophin meinte, dass es vielleicht einen Exklusivvertrag mit Diogenes gibt. Muss mal forschen.
Das klingt wirklich super, genau nach einem Buch für mich. Allerdings würde ich es eigentlich auch lieber auf Englisch lesen wollen, schade, dass das nicht geht. Vielleicht kommt es ja irgendwann noch. Danke jedenfalls für den Tipp, ich glaube, das Buch hätte ich sonst nie entdeckt. Liebe Grüße, Alana
Ja, es ist schon ein bisschen seltsam. Ich hoffe, du hast trotzdem Lesespaß mit dem Buch!
Das Buch klingt sehr interessant – das kommt auf meine Lese-Liste 🙂 Danke für die Rezension!
Das hört sich richtig gut an!