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Sergej Lochthofen: Grau – Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land [Rezension]

Cover Sergej Lochthofen Grau
Cover © Rowohlt Verlag

Sergej Lochthofen gehört zur dritten Generation einer deutsch-russischen Familie, die den Stalinismus erlebt und erlitten hat – von der Oktoberrevolution über den Gulag bis zum Mauerfall. In diesem Buch erzählt er, wie er aus Workuta nach Thüringen kam, auf der Straße die Sprache lernte, als einziges Kind eines Zivilisten in eine sowjetische Garnisonsschule ging, von zu Hause ausbrach, um auf der Krim Kunst zu studieren, vor der Einberufung in die Sowjetarmee zurück in die DDR floh und während der bleiernen Honecker-Zeit den stupiden Alltag in einer SED-Zeitung als Journalist erlebte – bis schließlich die aufregende Wendezeit anbrach. Dabei wird deutlich: Die Verschränkung von Deutschland und Russland ist mehr als ein biographischer Zufall. Wer die DDR verstehen will, muss die Sowjetunion mitdenken. (Inhaltsangabe © Rowohlt Verlag)

Als ich das Buch vor einiger Zeit entdeckte, war mir klar, dass ich es unbedingt lesen wollte. Nicht nur, weil ich für kurze Zeit mit Lochthofens Sohn Boris die Schulbank in der ersten Klasse drückte, sondern weil Sergej Lochthofens Name mich erst als Redakteur der Erfurter Zeitung “Das Volk”, später als Chefredakteur der “Thüringer Allgemeine” durch meine Kindheit und Jugend begleitet hat.

Beginnend in Workuta, einem Gulag im Hohen Norden, erzählt Sergej Lochthofen von einer Kindheit mit Blick auf Stacheldraht. Die Erinnerungen sind düster, die Zusammenhänge, wie die Familien in das berüchtigte Gulag gelangten, leider lange Zeit unklar. Dass man so wenig über die Vorgeschichte der Familie erfährt, war zunächst sehr unbefriedigend, da sich die Geschichte unvollständig anfühlte. Erst später entdeckte ich, dass Lochthofen zuvor ein Buch über das Leben seines Vaters Lorenz Lochthofen veröffentlicht hatte (Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters), das vermutlich mehr Aufschluss gibt.
Die Kapitel des Buches sind in die Jahre von 1953 bis 1990 unterteilt, stets beginnend mit einem Foto, den wichtigsten Ereignissen des  Weltgeschehens und einem Countdown bis zum Mauerfall.

Unterhaltsam und anschaulich erzählt Lochthofen, wie er als Fünfjähriger nach Thüringen kam. Es sind vor allem Erinnerungen an die Schulzeit und die Freunde aus der Straße. Die eigene Familie mit dem Bruder steht noch stärker im Fokus. Das beschriebene Leben als Russe in der DDR fand ich faszinierend. Selbst in der DDR aufgewachsen hätte ich es mir doch anders vorgestellt und ich erhielt einen ganz anderen Blick auf das Verhältnis zwischen der “Puppenstube” und “dem großen Bruder Sowjetunion”. Ausführlich beschrieben und spannend erzählt sind später auch die Jahre der Studiums zum Teil in der Sowjetunion, wo Lochthofen nun “der Deutsche” war, und in Leipzig, wo der Journalismus ein sozialistisches Gesicht verpasst bekam.

Etwa in der Mitte des Buches wechselt ohne Vorwarnung für ein Kapitel die Erzählperspektive – durch den sprachlichen Stilbruch dennoch deutlich erkennbar. Hier beschreibt Lochthofens Frau Maria, wie sich das Paar kennengelernt hat. Dass sie dabei nie seinen Namen nennt, macht es an manchen Stellen schwierig, zu wissen, von wem gerade die Rede ist, denn auch ihrer und sein Vater werden im Text erwähnt. Zwar lässt sich der Zusammenhang später im Ganzen erschließen, für den Moment wirkt es jedoch holprig, nicht zuletzt betont durch die kurzen, abgehackten Sätze. Wäre das ganze Buch in dieser Weise geschrieben worden, hätte ich es nach wenigen Seiten weggelegt.

Das letzte Viertel des Buches beschäftigt sich mit der Wende und ihren Folgen für die Zeitung “Das Volk”, bei der Lochthofen viele Jahre als Auslandsredakteur gearbeitet hat. In den Kapiteln des Umbruchs fühlte ich mich als Teil der Geschichte, deckten sich hier doch die Tagebucheinträge einer verunsicherten Dreizehnjährigen mit den von Lochthofen beschriebenen Geschehnissen in Erfurt. Natürlich erfährt man hier noch viele Hintergründe, die einem Teenager völlig verwehrt blieben. Mit Beginn des Jahres 1990 werden Lochthofens Beschreibungen geradezu minutiös. Kalendarisch berichtet er von den Anstrengungen entgegen verkalkten Strukturen die Parteizeitung “Das Volk” in eine unparteiische, unabhängige “Thüringer Allgemeine Zeitung” umzuwandeln. Hier steht Lochthofen als Vorreiter, als unerbittlicher Kämpfer gegen das dem Untergang geweihte, doch immer noch am Altbewährten festhaltende System.

Manchmal erscheint es zuviel des Guten: Lochthofen, der immer über den Dingen steht, immer die eigene Meinung vertritt und sich in keine Schublade stecken lässt. Ob als langhaariger Student, der seine Kommilitonen durch die Russischprüfungen schleust, als aufmüpfiger Volontär, als per Anhalter reisender Tourist – mit wohldosierter Dreistigkeit und immer mit dem russischen Pass wedelnd, kokettiert Lochthofen damit, nie dem System angepasst gewesen zu sein und alle Spielräume ausgenutzt zu haben. Dennoch hat er jahrelang für ein SED-Organ gearbeitet, dessen sämtliche Artikel über die Schreibtische der Parteiführung liefen.

Lochthofens Autobiographie liest sich angenehm flüssig. Er versteht es schnörkellos mit Worten umzugehen und packend zu erzählen. Die zeitliche Einordnung der biographischen Erlebnisse in das politische und kulturelle Geschehen in Schlagworten verorten den Leser nicht nur zeitgeschichtlich, sondern auch in der eigenen Biographie. Letztendlich hat mich das Buch überrascht. Ich hatte weder mit einer so interessanten Lebensgeschichte gerechnet, noch damit, meinen Blick auf das Verhältnis von DDR und Sowjetunion noch einmal verändert zu sehen. Absolute Leseempfehlung für jeden, der sich für interessante Biographien und ein ungewöhnliches Leben in der DDR interessiert.

© Tintenhain


Leseprobe
Interview mit Sergej Lochthofen zu seinem Vater und seiner eigenen Biographie (Video)


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Einzelband
Hardcover: 496 Seiten
Verlag: Rowohlt Verlag (26. September 2014)
ISBN-10: 349803944X
ISBN-13: 978-3498039448
Preis: € 19,95 [D]
geliehen
Cover Sergej Lochthofen Grau
Cover © Rowohlt Verlag

 

6 Kommentare

      1. Hallo Tintenelfe!
        Zwar habe ich noch viel Lesestoff (und schreiben möchte ich auch noch), aber dieses Buch wird ganz sicher nicht vergessen.
        Solche Geschichten interessieren mich immer sehr.
        Sehr bewegt hat mich auch folgendes Buch, vielleicht kennst Du es:
        “Ich wollte leben, wie die Götter ” von
        Ibraimo Alberto.
        Auch sehr bewegend, spielt auch in der ehemaligen DDR. Ich kann es sehr empfehlen. 🙂
        Gruß Karen

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