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Caroline Wahl: 22 Bahnen [Rezension]

Cover Caroline Wahl: 22 Bahnen
Cover © DuMont

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle. (Inhaltsangabe © DuMont Verlag)

Nichts lässt Tilda so gut abschalten und entspannen wie die täglichen 22 Bahnen im Schwimmbad. Nach der Uni, an der sie Mathematik studiert, nach der Arbeit an der Supermarktkasse: 22 Bahnen müssen es sein und dann noch ein kleines Pläuschen mit Ursula, die ebenfalls schon zum Schwimmbadinventar zu gehören scheint. Zu Hause wartet Tildas kleine Schwester Ida, um die sie sich rührend und aufopfernd kümmern muss, denn die gemeinsame Mutter kümmert sich mehr um ihren Alkoholpegel als um die beiden Mädchen. Als Tilda eine Promotionsstelle in Aussicht gestellt wird, ruft leise lockend die Freiheit. Doch wer kümmert sich dann um die schüchterne Ida? Eine neue Wendung in ihrem Leben könnte auch Viktor sein, der im Schwimmbad ebenfalls 22 Bahnen schwimmt und mit dessen Bruder Ivan Tilda früher befreundet war. Doch da ist auch noch die Nacht, bevor Ivan bei einem Autounfall tödlich verunglückte und das Wissen darum belastet Tilda noch immer.

Caroline Wahls Debütroman “22 Bahnen” ist ein berührender und zugleich überraschend unaufgeregter Roman über eine dysfunktionale Familie, über Verantwortung, Zusammenhalt und Stärke. Er macht Mut und trotz der belastenden Themen wie Alkoholismus und Verlust gelingt es der Autorin, ihrem Roman eine wohltuende Leichtigkeit zu verleihen. Die beiden Schwestern entwickeln jede auf ihre eigene Art Wege, mit ihrer Situation umzugehen. Man hofft und bangt mit ihnen, kann mit ihnen lachen und hat zugleich Sorge vor dem nächsten Absturz des “Muttermonsters”. Die Liebesgeschichte – denn was ist ein Drama ohne Lovestory? – ist dezent und unverkitscht dargestellt. Überhaupt gelingt Caroline Wahl die Gratwanderung, Emotionen zu wecken, ohne dabei sentimental zu werden oder auf die Tränendrüse zu drücken. So eignet sich das Buch trotz der aufwühlenden Thematik durchaus als Sommerlektüre.

Caroline Wahls Sprachstil ist außergewöhnlich. Die Arbeit an der Supermarktkasse wird ausschließlich mit dem Kassenscanner beschrieben: “Hafermilch, Mandelmilch, Cashewmus, tiefgefrorene Himbeeren, Hummus, Kölln Haferflocken, Chiasamen, Bananen, Dinkelnudeln, Avocado, Avocado, Avocado.” Verkürzte Dialoge auf den Punkt gebracht, die Sprecher dramamäßig mit Rolle und Doppelpunkt gekennzeichnet. Dezente Jugendsprache, gerade so, dass man immer wieder daran erinnert wird, dass Tilda jünger ist als es manchmal den Anschein hat. Zahlen werden nicht ausgeschrieben, sondern als Ziffern dargestellt, was das mathematische Zahlendenken Tildas unterstreicht. Und auch wenn das alles irgendwie speziell klingt, gelingt es Caroline Wahl, mit ihrem bemerkenswerten Schreibstil doch eher dezent und unaufdringlich zu bleiben. Zudem entwickelt sich durch die pointierte Sprache ein regelrechter Sog, der den Leser durchs Buch rauschen lässt. Ich liebe es! Ganz klare Leseempfehlung!

© Tintenhain


Leseprobe


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Einzelband
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
Verlag: DuMont Buchverlag (18. April 2023)
ISBN-10: 3832168036
ISBN-13: 978-3832168032
Preis: € 22,00 [D]
Rezensionsexemplar
Cover Caroline Wahl: 22 Bahnen
Cover © DuMont

10 Kommentare

  1. Wow, das klingt wirklich nach einem tollen Buch.
    Ich bin ja schon wie in einen Sog geraten, als ich gerade eben deine Rezension gelesen habe.

    Ich werde es mir mal merken, aber SuB und WuLi platzen aus allen Nähten.

    Cheerio
    RoXXie

    1. Oh ja, ich war sehr begeistert, bin es immer noch. Ich kann dir das buch unbedingt empfehlen. Aber ich kenne das Problem! Hätte ich es nicht gerade aus der Bücherei aks eBook leihen können (bequemer zu lesen), würde ich es auch noch vor mir herschieben. 😄

      Liebe Grüße
      Mona

  2. Hallo liebe Mona,

    hm, bei soviel Genauigkeit tippe ich mal mal wahrscheinlich auch auf eine mögliches Krankheitsbild wie Asperger, denn für mich persönlich ist ihr Leben zu durchgetaket…

    Außerdem sind mir persönlich dabei zu viele traurige Lebenspunkte/Situationen.
    Mich kann so was nicht begeistern, ich mag andere Menschen nicht leiden sehen..darüber auch noch lesen müssen….nee nicht mein Ding…

    LG…Karin..

    1. Liebe Karin, das Interessante an dem Buch ist ja gerade, dass Positive, das die beiden Mädchen aus ihrer Situation ziehen. 😉 Ich habe das gar nicht so sehr als leiden empfunden, da Leiden für mich auch auch etwas mit sich Abfinden und einer gewissen Passivität zu tun hat. So ist es hier aber nicht.
      Asperger (übrigens keine Krankheit) ist viel komplexer als allein ein “durchgetaktetes Leben”. Im Falle von Tilda ist es einfach notwendig, da sie Studium, Arbeit und die Versorgung/Erziehung ihrer kleinen Schwester unter einen Hut bringen muss.
      Aber natürlich musst du das Buch nicht lesen. 😉 Vielleicht passt ja das nächste Buch besser zu deinem Lesegeschmack.

      Liebe Grüße
      Mona

  3. Ich bin auch gerade dabei, über meine Lektüre zu schreiben. Ich sehe das ganz ähnlich. Es ist ein interessant ausgewogenes Buch, das im Gegensatz zu vielen Familien-Drama-Büchern auch einen Plot und eine Entwicklung hat, dich mich überzeugte. Nur diese nicht ausgeschriebenen Zahlen fand ich irgendwie unangenehm, dass dieses die Zahlen- und Mathematikaffinität der Protagonistin unterstreicht, versöhnt mich im Nachhinein etwas, wiewohl das ein Bisschen ein Bruch zwischen Text und Metatext ist, aber auch diesen Gedanken finde ich interessant. Danke für die schöne Besprechung!

    1. Hallo Alexander, danke tür deinen interessanten Kommentar. Mich haben die nicht ausgeschriebenen Ziffern tatsächlich irritiert und ich fand es unangenehm, dass ich dadurch immerzu aus dem Lesefluss gerissen wurde. Andererseits hat es dann doch dazu geführt, dass ich überlegt habe, warum das wohl so sein könnte. Schlechten Stil wollte ich ihr einfach nicht zutrauen. 😄
      Für mich ist das Buch ein überraschendes Highlight in diesem Jahr. Ich bin sehr auf deine Besprechung gespannt.

      Liebe Grüße
      Mona

  4. Hallo Mona,

    unser Lesekreis wird das Buch im August aus der Bücherei ausleihen und wir werden dann gemeinsam darüber sprechen. Ich hatte das Buch in einer der Literatursendungen im Fernsehen gesehen und es dann im Lesekreis vorgeschlagen.
    Ich freue mich schon darauf.

    Liebe Grüße
    Petra

    1. Hallo Petra,

      heißt das, dass ihr das Buch dann nacheinander lest? Wie viel Zeit gebt ihr euch dann?
      Bei uns fällt das Buch tatsächlich erst mal raus, weil es als Lesekreisbuch den meisten zu teuer ist. Ich bin gespannt, wie das Buch bei euch ankommt. Ich fand es großartig.

      Liebe Grüße
      Mona

  5. Hallöchen Mona,

    Asche über mein Haupt, das Büchlein liegt immer noch ungelesen da, obwohl ich es lesen möchte. Die Autorin ist als Person schon Authentisch und deine Beschreibung zum Buch passt zu ihr als Person 🙂
    Ich freu mich drauf, über kurz oder lang.

    Liebe Grüße
    Tina

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