Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt [Rezension]
Am 30. April 1945 schoss sich Adolf Hitler in Berlin eine Kugel in den Kopf. Zur selben Zeit strömten im Städtchen Demmin beim Einmarsch der Roten Armee hunderte Menschen in Flüsse und Wälder, um sich dort umzubringen. Ganze Familien wurden ausgelöscht, Eltern töteten ihre Kinder. Demmin ist nur ein Beispiel unter vielen: Eine Selbstmordepidemie ergriff tausende Menschen im ganzen Land. Basierend auf Tagebüchern, Briefen, Berichten und Erinnerungen erzählt dieses Buch erstmals vom Untergang der kleinen Leute. Die Massenselbstmorde von 1945 sind ein bis heute verdrängtes Kapitel der Zeitgeschichte, für die seelischen Wunden, die Überlebende und Angehörige davontrugen, interessierte sich jahrzehntelang niemand. Beidem, der Selbstmordwelle wie dem Schweigen, Verdrängen und Vergessen, lag dasselbe Motiv zugrunde, die Flucht vor dem Unerträglichen. Die tieferen Ursachen aber verbargen sich in der Innenwelt der Deutschen, die zwölf Jahre lang im emotionalen Ausnahmezustand gelebt hatten. Florian Huber entwickelt die Geschichte der Gemüts- und Gedankenwelt der Menschen im Dritten Reich im Wechsel von historischer Reportage und Mentalitätsstudie – ein fesselnder Blick auf die Gefühle der kleinen Leute, die in ihren Untergang marschierten. (Klappentext “Kind versprich mir, dass du dich erschießt” © Berlin Verlag)
Als Kind der Wende hatte ich in der Schule im Geschichtsunterricht gleich dreimal das Thema 3. Reich und Zweiter Weltkrieg. In der neunten, zehnten und zwölften Klasse, dank sich ständig ändernder Lehrpläne. Ich erinnere mich an Schaubilder zur Westfront, zur Ostfront und die Aufzählung von Schlachten. Es endete immer mit dem “Tag der Befreiung” am 8. Mai, den ich ja auch als Feiertag kannte. Doch eine Sache erfuhr ich erst Jahre später: Das Drama von Flucht und Vertreibung, von massenhaften Vergewaltigungen, Gewalt und unendlichem Leid. Ganz neu kam nun das Thema der Selbstmordwellen hinzu, die Deutschland zum Ende des Krieges erfassten. Auch davon hatte ich bis dahin noch nie gehört.
“Kind versprich mir, dass du dich erschießt” – ein Titel, der die Verzweiflung der Menschen zum Ende des 2. Weltkrieges nicht besser ausdrücken könnte. So geht es im ersten Teil des Buches um das Städtchen Demmin in Vorpommern, das am 30. April kampflos den vorrückenden sowjetischen Truppen überlassen wurde. Zeitgleich nahm sich Hitler im Führerbunker in Berlin mit seiner Frau das Leben. Demmin, von Flüssen umgeben, sah seinem Schicksal entgegen. Die Brücken nach Westen waren gesprengt, die Rote Armee konnte nicht weiter und so kam es im Zuge des 1. Maifeiertages zu Gewaltexzessen und Brandstiftungen, was einen Massenselbstmord unter der Bevölkerung auslöste. Mütter töteten ihre Kinder und dann sich selbst, Familien gingen zusammen in den Tod. Die meisten gingen ins Wasser, viele erhängten sich. Auch im Westen des Landes wählten viele Menschen den Freitod, wenn auch hier die Motive eher Schuld oder Scham waren.
Interessant ist, dass die unzähligen Selbstmorde kaum dokumentiert sind, nur wenige Sterbebücher haben die Toten als Freitote gekennzeichnet. Die Dunkelziffer ist hoch. So bezieht Florian Huber sich auch vorrangig auf Zeitzeugenberichte und zeichnet aus den Aufzeichnungen und Briefen von Überlebenden ein neues Bild.
Im zweiten Teil des Buches schlägt Florian Huber einen Bogen zurück in die 1920er Jahre, die Zeit, in der das Deutsche Volk unter den Repressionen des Versailler Vertrags ächzte und die Wirtschaftskrise ihr Übriges tat. Mit den Augen von Zeitzeugen wird der Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler beschrieben und die Einflussnahme, die er und sein Parteiapparat auf die Menschen hatten. In den Beispielen zeigt sich auf, wie schwer es war, sich der Anziehungskraft der neu angebrochenen Zeit und der Propaganda zu entziehen. Auch Angst spielt eine Rolle und die Furcht ins soziale Abseits zu geraten. Später während des Krieges kommen die Zweifel und sie werden genährt, doch wie den Punkt zum Aufhören finden. Anhand der Dokumente zeigt Huber auf, wie es dazu kommen konnte, dass am Ende niemand etwas gewusst haben wollte und das gesamte Deutsche Volk zum Vogel Strauß wurde.
Der Bogenschlag ist notwendig, wenn auch etwas lang geraten, um zu erklären, warum sich so viele Menschen das Leben nahmen als der Untergang Hitlers und seines Tausendjährigen Reiches abzusehen war. Zunächst vereinzelt und dann in größeren Wellen, anhaltend noch Monate nach Ende des Krieges.
Florian Huber berichtet verständlich und ohne Umstände unter Verwendung von Zeitzeugenberichten, nennt Namen und berichtet von Schicksalen. Einmal begonnen, konnte ich das Buch kaum wieder aus der Hand legen. Die Toten, die die kleine Vera aus “Altes Land” von Dörte Hansen in ihrer Erinnerung in den Bäumen schwanken sieht und nie wieder aus dem Kopf bekommen soll, bekommen ein Gesicht, einen Namen. Ich war erschüttert von diesen Berichten, die Geschichte lebendig werden lassen, wobei Huber stets die Zeitzeugen erzählen lässt, ihnen die Bühne bereitet und ihre Dokumente in einen flüssig zu lesenden Text einbettet.
© Tintenhain
Mehr Blogger-Rezensionen zum Buch
Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Berlin Verlag (16. Februar 2015)
ISBN-10: 3827012473
ISBN-13: 978-3827012470
Preis: € 22,99 [D]
Bücherei
auch als Taschenbuch im Piper Verlag (2. Mai 2016)
Preis: € 11,- [D]
Hallo Mona,
puh, schon allein bei Deiner Rezension merkt man deutlich, wie sehr es berührt und beschäftigt.
Im Moment meide ich eher so “schwere und bedrückende Kost” aber ich werde es auf jeden Fall auf meine Merkliste setzen.
Danke für diese bewegende Rezension!
Liebe Grüße
Ela
Ich habe Teile der Rezension während des Lesens getippt, weil ich das dringende Bedürfnis hatte – das kommt eher selten vor. Die erste Hälfte habe ich tatsächlich aufrecht sitzend, wie gebannt gelesen. Vor dem Schlafengehen musste es dann auch erst noch etwas Lustiges sein.
Ich geb zu, ich habe das Buch erst jetzt gelesen,weil ich etwas Angst vor dem Buch hatte. Glücklicherweise ist es aber ein Sachbuch, was es einfacher macht, mit dem Thema umzugehen.
Hallo Mona,
nachdem ich auf Facebook bei dir erneut über das Buch gestolpert bin, habe ich es nun endlich mal in die Hand genommen und zu lesen begonnen. Das Buch oder eigentlich die Schicksale die dahinter stehen, sind wirklich schwer zu ertragen und so unglaublich bedrückend. Ich habe außerdem etliche Seiten gebaucht um mich einzufinden obwohl der Schreibstil doch eigentlich recht flott und verständlich ist.
Wer mich näher kennt weiß, dass es mir solche Bücher allgemein sehr angetan haben. Leider kann ich mich bezüglich dieses Themas nie ausreichend ausdrücken und daher findet man dazu keine Rezension auf meinem Blog.
Du hast, finde ich, sehr passende und bewegende Worte gefunden dieses Buch zu beschreiben. Danke für diese Rezension.
Viele liebe Grüße,
Rena
Liebe Rena,
danke für den schönen Kommentar und das Lob. Solltest du noch eine Rezension schreiben, würde ich sie sehr gern verlinken.
Viele Grüße
Mona
Danke für diese eindrucksvolle Buchbesprechung. Ich habe gerade richtig Gänsehaut, und ich denke, dieses Thema geht auch tatsächlich unter die Haut. Da ich mich regelmäßig bewusst mit dem Thema des Zweiten Weltkriegs beschäftige – auch wenn es hart ist – werde ich mir dieses Buch als Lektüre vormerken.
Lieben Gruß von Tina
Vielen Dank, ich freue mich, dass dir die Rezi gefällt. Ich habe einige Sätze schon während des Lesens formuliert, weil sie gesagt werden mussten.
Ich wünsche, dass Du das Buch auch bald liest und wenn Du gern darüber sprechen möchtest, stehe ich gern zur Verfügung. Ich habe nämlich festgestellt, dass mir, wenn ich im Freundeskreis davon anfange, schnell Widerstreben entgegenschlägt. Nach dem Motto: “Oh, bitte nicht so was!”
Liebe Grüße
Mona
Wow, an das Buch habe ich mich so recht nicht herangetraut. Ich komme aus der Nachbarstadt von Demmin quasi. Und kann dir sagen: Es ist in der Region auch kein Thema. Ich wusste davon nichts bis das Buch kam. Aber die Schrecken der Roten Armee wurden in der DDR Zeit auch totgeschwiegen. Und heute ist vieles fast vergessen.
Ja, das meine ich: Die Rote Armee und Verbrechen an Deutschen – unsere Freunde und Brüder? Niemals! – Ich war in den 90ern reichlich schockiert.
Das Buch ist (insbesondere im ersten Teil) schon harter Tobak, vor allem, weil es sich auf Zeitzeugen stützt. Aber ich denke, es hilft auch, manches besser zu verstehen. Vielleicht greifst du ja doch noch danach, auch wenn es mit dem Städtchen vor Augen sicher noch einmal eine andere Vorstellungskraft erhält.
Deine Rezension ist ein wunderbares Highlight. Längst interessiere ich mich für dieses Buch, aber deine Worte haben mich restlos überzeugt, dass ich dieses Buch unbedingt und schnellstens lesen muss. Dankeschön für deine gelungene Mühe.
Herzlichst, Nisnis
Vielen lieben Dank! Ich finde, es ist ein wichtiges Buch, das viele Leser braucht. Daher freue ich mich, wenn ich jemanden davon überzeugen kann. Ich bin gespannt, was du dann dazu sagen wirst.
Liebe Grüße
Mona