Tintenhain – Der Buchblog

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen [Rezension]

Cover (c) Beck Verlag

Saint-Malo 1944: Die erblindete Marie-Laure flieht mit ihrem Vater, einem Angestellten des „Muséum National d’Histoire Naturelle“, aus dem besetzten Paris zu ihrem kauzigen Onkel in die Stadt am Meer. Verborgen in ihrem Gepäck führen sie den wahrscheinlich kostbarsten Schatz des Museums mit sich.
Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird wegen seiner technischen Begabung gefördert und landet auf Umwegen in einer Spezialeinheit der Wehrmacht, die die Feindsender der Widerstandskämpfer aufzuspüren versucht. Während Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird, dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem Sender, der die Résistance mit Daten versorgt… (Klappentext)

 

Als die kleine Marie-Laure mit sechs Jahren erblindet, bastelt ihr Vater, ein talentierter Schlosser, ein Modell von dem Stadtviertel in Paris, in dem sie zu zweit leben. Marie-Laure findet sich in ihrer Welt zurecht bis die Deutschen einmarschieren und sie nach Saint-Malo an die bretonische Küste zu Großonkel Etienne fliehen müssen. Was sie nicht weiß: Ihrem Vater, der im Naturhistorischen Museum arbeitet, wird der wohl wertvollste Diamant, das “Meer der Flammen”, aus der Sammlung anvertraut, was schon bald den deutschen Diamantenspezialisten und Kunstsammler Reinhold von Rumpel auf ihre Spur setzt.

In Deutschland wächst im Ruhrgebiet der Waisenjunge Werner auf, der schon früh ein große technische Begabung zeigt. Mit selbst gebastelten Radioempfängern lauscht er in der Nacht einer französischen Wissenschaftssendung, die ihn  fasziniert. Aufgrund seines Ausnahmetalentes gelangt er in eine Eliteschule zur Heranziehung des Führernachwuchses für Wehrmacht und SS (NPEA Schulpforta). Dort nimmt ihn ein ehrgeiziger Physiklehrer unter seine Fittiche und bildet ihn zum Spezialisten aus, worauf hin Werner einer Spezialeinheit der Wehrmacht zugeteilt wird, die Feindsender aufspüren und vernichten soll.

Was für ein herausragender Roman! Geschickt verknüpft Anthony Doerr seine beiden Haupthandlungsstränge von 1934 bis 1944. Beginnend beim Bombardement der kleinen Küstenstadt Saint-Malo webt er seine Fäden durch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und macht durch seine beiden jungen Protagonisten viele Facetten dieser Zeit greifbar. In kurzen Kapiteln wechseln sich vor allem die beiden Hauptstränge, aber auch einige wenige, erzählerisch notwendige Nebenhandlungen ab. Seite um Seite entfaltet sich die ganze Geschichte und voller Spannung bangt man um das Leben der Figuren, immer voller Hoffnung, dass sie einander eines Tages begegnen mögen.

In ganz kurzen Episoden lässt Doerr auch ganz nebenbei Themen wie Antisemitismus, Judenvernichtung, Denunziation und Kollaboration aufblitzen, so dass man ein umfassendes Bild erhält, in dem nichts ausgelassen wird. Es ist beachtlich, wie vielschichtig dieser Roman gelungen ist, wieviele Anregungen zum Nachdenken man bekommt. Immer wieder gibt es Szenen, die zum Innehalten auffordern und doch kann man sich dem Sog der Erzählung kaum entziehen und ist schon auf der nächsten Seite, um zu erfahren, wie es weiter geht.

Nicht nur mit der blinden, so mutigen Marie-Laure und dem intelligenten, gutherzigen Werner, der zwischen seiner Wissbegier und dem Zwang sich unterordnen zu müssen, kaum weiß, was er tun soll, schafft Doerr wunderbar authentische und vor allem nicht eindimensionale Figuren. Auch Marie-Laures Vater, der alles tut um seine Tochter zu schützen, Großonkel Etienne, der im Ersten Weltkrieg den Lebensmut verloren und nun mit Geistern leben muss, die Erzieherin aus dem Waisenhaus, Werners einziger Freund, der alle Vögel mit Namen kennt… sie alle und noch einige mehr tragen zu einem wunderbaren Lesevergnügen bei.
Besonders gut hat mir auch gefallen, dass man von den meisten Figuren Beweggründe erfahren hat, so dass pures Schwarz-Weiß-Denken verhindert wird. Auch das abschließende Kapitel im Jahre 1979 hat mich sehr berührt. Ich habe es tränenverschleiert gelesen und jeden Satz gierig aufgesogen.

Doerr begeistert mit seiner Sprache, den wortgewaltigen Bildern, faszinierenden Schilderungen, die oft mit einem einzigen Satz eine ganze Geschichte erzählen. Gerade diese wie nebenbei gelungene Vielschichtigkeit, die nur durch Andeutungen soviel erzählt, hat mich tief beeindruckt und begeistert.

“Alles Licht, das wir nicht sehen” ist eins dieser Bücher, die man gelesen haben sollte. Von mir gibt es eine ganz eindeutige Leseempfehlung an alle, die es bisher noch nicht gelesen haben.

© Tintenhain

Leseprobe

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Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Taschenbuch: 528 Seiten
Verlag:
btb Verlag (11. Juli 2016)
Originaltitel:
 All the Light We Cannot See (2014)
Übersetzung aus dem Englischen:
Werner Löcher-Lawrence
ISBN-10: 3442749859
ISBN-13: 978-3442749850
Preis: € 11,00 [D]
Bücherei

Cover (c) Beck Verlag

16 Kommentare

  1. Guten morgen liebe Mona,

    ich muss gestehen, dass ich das Buch schon öfter irgendwo gesehen habe, es aber bisher nie so wirklich meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Aber nach deiner wundervollen Rezension landet das Buch direkt auf meine Wunschliste. Es hört sich wirklich grandios an.

    Ich wünsche dir und Purzelchen einen tollen Tag.

    Liebste Grüße
    Sonja

    1. Liebe Sonja,

      ich hatte es ja länger auf der Leseliste und war immer wieder verunsichert. Aber nun bin ich sehr glücklich, es endlich gelesen zu haben. Es ist wirklich grandios.

      Liebe Grüße,
      Mona

  2. Guten Morgen!

    Das klingt wirklich fantastisch. Die Zeit finde ich auch immer wieder sehr spannend und was du schreibst, hat mich direkt mitbegeistert! Das merk ich mir auf jeden Fall vor. 🙂 Danke!

    Liebe Grüße!
    Gabriela

    1. Hallo liebe Gabriela,

      ich hätte nicht gedacht, dass ich sooo begeistert sein würde. Eine wirklich tolle Geschichte, so einfühlsam erzählt.

      Liebe Grüße,
      Mona

  3. Tolle Rezension. Ich hatte es ja schon so oft in der Hand, wieso habe ich es bisher trotzdem nicht gelesen? Ich denke das ist einfach das Thema, man weiß sofort dass es sich um ein schwer verdauliche Geschichte handelt.

    1. Es war gar nicht so schlimm wie ich ursprünglich dachte. Es gibt auch keine ekligen Schlachten oder so. Probier es einfach mal.
      Ich weiß auch nicht, wieso ich so lange gezögert habe.

      LG,
      Mona

  4. Danke für die Verlinkung. Astrid war total begeistert von diesem Buch und ich muss gestehen, dass ich es immer noch nicht gelesen habe. Danke, dass du es mir wieder in Erinnerung gerufen hast.
    Viele Grüße
    Silvia

  5. Huhu!

    Dieses Buch steht schon länger auf meiner Wunschliste, und du hast es mir jetzt noch mal richtig schmackhaft gemacht! 🙂

    Ich habe deinen Beitrag HIER für meine Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs verlinkt!

    LG,
    Mikka

  6. Hallo Mona,

    bei mir liegt es schon länger am SuB und ich weiß nicht einmal, warum ich es ständig vor mir herschiebe. Nach deiner begeisterten und begeisternden Rezension sollte es jetzt wirklich mal an die Reihe kommen. Die Empfehlung nehme ich also gerne an.

    Liebe Grüße,
    Nicole

    1. Du musst es unbedingt lesen, liebe Nicole. Das ist kein Buch, das auf dem SuB versauern darf.
      Sagt sich so leicht, nachdem ich es auch eine kleine Ewigkeit vor mir hergeschoben habe. 😉

      Liebe Grüße,
      Mona

  7. Liebe Mona,
    dieses Buch ist so ein richtiges Must-Read. Ich finde den Titel alleine schon grandios. Deine Rezension hat mich darin bestärkt es jetzt wirklich bald zu kaufen. Danke dir für diesen tollen Tipp.

    Liebe Grüße
    Tamara

    #litnetzwerk

    1. Hallo Tamara,

      das Buch sollte man auf jeden Fall lesen, vor allem, wenn man sich für die Zeit interessiert. Mich hat es auf jeden Fall sehr beindruckt und ich empfehle es seitdem auch immer gern.

      Liebe Grüße,
      Mona

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