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Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol [Rezension]

Cover Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol
Cover © Rowohlt Verlag

 

“Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe” – Natascha Wodins Mutter sagte diesen Satz immer wieder und nahm doch, was sie meinte, mit ins Grab. Da war die Tochter zehn und wusste nicht viel mehr, als dass sie zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war. Wieso lebten sie in einem der Lager für “Displaced Persons”, woher kam die Mutter, und was hatte sie erlebt? Erst Jahrzehnte später öffnet sich die Blackbox ihrer Herkunft, erst ein bisschen, dann immer mehr. (Inhaltsangabe © Rowohlt Verlag)

Natascha Wodin geht in ihrem Buch auf Spurensuche. Das Kind ehemaliger Zwangsarbeiter erfährt zu Hause nur Schweigen. Allein der Satz “Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe…” prägt ihre Kindheit, weckt aber auch ihre Neugier. Was hatte die Mutter gesehen? Es muss so grauenhaft gewesen sein, dass sie eines Tages den Freitod wählte und ihre Kinder zurück ließ.
Immer wieder versucht Natascha Wodin auch Jahrzehnte später noch etwas über ihre Mutter zu erfahren, von der sie kaum mehr weiß als den Namen, das Geburtsdatum und den Geburtsort Mariupol in der Ukraine. Eines Tages landet sie mit einer Suchmaschine im Internet einen Treffer. Sie kann kaum glauben, was nun passiert. Tausende Kilometer entfernt beginnt ein junger Mann zu recherchieren und nach und nach kommt Natascha Wodin ihrer Familie immer näher. Puzzelteile fügen sich zusammen, die Personen auf den drei alten Fotos, die sie besitzt, bekommen endlich einen Namen.

“Sie kam aus Mariupol” gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil beschreibt die Suche, die Recherche und das Entdecken der eigenen Familiengeschichte. Im zweiten Teil rekonstruiert Wodin anhand von Aufzeichnungen ihrer Tante Lidia die Zeit zwischen 1920 und Kriegsbeginn, während der dritte Teil sich ganz auf das Leben der Mutter von 1941 bis zum Kriegsende konzertiert. Im zeitlich nahtlos anschließenden vierten Teil fließen auch Wodins eigene Erinnerungen stark mit ein und verleihen der Geschichte Emotionalität und Stärke.
Wodin stützt sich in ihren Beschreibungen auf die Ergebnisse ihrer Recherchen, historische Dokumente und füllt Lücken immer wieder mit theoretischen Annahmen und Phantasien. Insbesondere das Leben der Mutter bis zur Überfahrt nach Deutschland als Zwangsarbeiterin kann nur auf Mutmaßungen, die wiederum anhand von Fakten des historischen Hintergrunds erzählt werden. Auch für die Zeit als Zwangsarbeiterin in den Leipziger Flick-Werken stützt sich Wodin auf Dokumente über die Lager und stellt sich vor, wie ihre Mutter gelebt haben muss. Wodin versucht zu verstehen, warum ihre Mutter so geworden ist, wie sie war. Die Schönheit der Mutter wird glorifiziert und muss so manches Mal für Mutmaßungen herhalten.

Spannend wie ein Krimi liest sich Natascha Wodins Suche nach der Herkunft ihrer Mutter und damit auch ihren eigenen Wurzeln. Besonders der seitenstärkste erste Teil, in dem Wodin ihrer Familiengeschichte auf die Spur kommt, liest sich mehr wie ein Bericht. Später versucht Wodin vielmehr eine Geschichte zu erzählen, wobei der Ton der Berichterstattung immer unterschwellig zu spüren ist. So ist es denn auch mehr eine Dokumentation als ein Roman. Die Verknüpfung aus Recherche, historischen Fakten und der eigenen Imagination gelingt einfühlsam und stimmig.

Neben der spannenden Recherche war es vor allem das Thema der millionenfach verschleppten Zwangsarbeiter, das mich interessierte. Ein Thema, mit dem ich bisher nur wenig in Berührung gekommen bin, wohl auch weil dieses Kapitel der Deutschen Vergangenheit noch viel zu wenig Beachtung bekommt. Besonders der Umgang mit den hiergebliebenen, weil ausweglosen, nicht zurück könnenden Zwangsarbeitern war für mich ein völlig unbeschriebenes Blatt.

© Tintenhain


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Einzelband
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
Verlag: Rowohlt (17. Februar 2017)
ISBN-10: 3498073893
ISBN-13: 978-3498073893
Preis: € 19,95 [D]
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Cover Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol
Cover © Rowohlt Verlag

7 Kommentare

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