Tintenhain – Der Buchblog

Katharina Hartwell: Das fremde Meer [Rezension]

Cover Das fremde Meer Katharina Hartwell
Cover © Berlin Verlag

Dieses Buch ist eine Reise: in die Salpêtrière, die Pariser Psychiatrie, in der Sigmund Freud Schüler bei Charcot war; in den Winterwald, aus dem eine gelangweilte Prinzessin einen Prinzen retten will; in die Wechselstadt, in der ganze Häuser als “Mobilien” durch die Stadt wandern; in die Geisterfabrik, wo Seelenfragmente zu Spiritografien verarbeitet werden… Zehn Kapitel, zehnmal die Geschichte von Marie und Jan.
Marie gehört zu den Menschen, die glauben, dass Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind. Sie rechnet darum stets mit dem Schlimmsten – und behält recht: Sie ist eine Außenseiterin, ängstlich, verzweifelt, meist stumm und voller Sehnsüchte. Womit sie nicht rechnet? Gerettet zu werden, von Jan, der so anders als sie selbst scheint.
Von ihm fühlt Marie sich gefunden. Doch ganz traut sie ihrem Glück nicht, denn sie weiß: »man kann alles trennen, teilen und spalten, sogar ein Atom«. Was haben Marie und ihre Geschichten dem Schicksal entgegenzusetzen? Kann die Literatur ein Leben retten? Kann sie erzählen, wofür es keine Worte gibt? (Inhaltsangabe © Berlin Verlag)

Eine Rezension zu “Das fremde Meer” zu schreiben, fällt mir nicht leicht. Mehrere Wochen hat mich dieses Buch nun begleitet. Die ersten Tage im Urlaub habe ich die Seiten verschlungen. Von der ersten Seite an konnte Marie mich mit ihrer Erzählung an sich binden. Lebhaft und deutlich standen mir ihre Kindheit und ihr bisheriges Leben vor Augen.

Dann begannen die einzelnen Erzählungen und ich wurde in eine Psychiatrie entführt, in einen verschneiten Winterwald, in die Wechselstadt, in der sich selbst Häuser eigenständig teleportieren können. Völlig fasziniert und von einer wunderbaren Sprache getragen, erlebte ich die Liebe von Augustine und Jacques, Moira und Jonas, Miran(da) und Julian… Besonders Augustines Erlebnisse in der Salpêtrière, der Pariser Psychiatrie im 19. Jahrhundert, übten eine unheimliche Faszination auf mich aus, die mich zum Recherchieren brachte, denn darüber wollte ich unbedingt mehr wissen.

Nach meinem Urlaub, zurück im täglichen Stress zwischen Beruf und Kindern, merkte ich, dass “Das fremde Meer” kein Buch für zwischendurch ist. Sind die einzelnen Geschichten zu Beginn noch voneinander losgelöst und scheinen nur durch das Element der ungewöhnlichen Liebesgeschichte in immer wieder neuen Facetten getragen, so werden sie zunehmend immer stärker miteinander verwoben. Kleine Hinweise, die einem unaufmerksamen Leser entgehen können, versteckte Anspielungen und zum Ende hin ganz offensichtliche Bezüge, verknüpfen die zehn Geschichten kunstvoll zu einem Ganzen.

Dennoch fiel es mir in den wenigen kurzen Lesemomenten, die ich zur Verfügung hatte, schwer mich immer wieder neu einzulassen. Der Spannungsbogen ist sehr niedrig, die Geschichten sind trotz ihrer sehr unterschiedlichen Erzählweise aufgrund ihrer immer wieder gleichen Grundidee vorhersehbar, düster und bedrückend, jedoch auch sehr intensiv. Auf mich wirkte das ganze Buch zunehmend experimentell. Wie erzählt man eine Geschichte auf unterschiedliche Art und Weise und bringt dabei nicht nur verschiedene Erzählarten, sondern auch verschiedene Genres mit ein?

Die Rahmenhandlung von Jan und Marie hat mich gerade zum Schluss hin ganz besonders berührt. Alles erklärt sich wie von selbst, die Geschichten rücken an ihren rechten Platz und man hat plötzlich das Gefühl, Jan und Marie ganz genau zu kennen und das, was ihre Liebe ausmacht. Gerade dieser letzte Teil war sehr ergreifend und entschädigte für manche Durststrecke.

Katharina Hartwell gelingt es mit ihrem Roman eine Geschichte in vielen verschiedenen Facetten zu erzählen und bedient sich dabei unterschiedlicher literarischer Strömungen. Gekonnt verbindet sie dabei scheinbar willkürlich erzählte, zusammenhanglose Geschichten zu einem Ganzen – verwirrend, berührend und unglaublich intensiv.

© Tintenhain


Die Autorin
Katharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren und studierte mit Auszeichnung Anglistik und Amerikanistik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihren Debütroman “Das fremde Meer” erhielt sie den Jungen Literaturpreis Pfaffenhofen und den Förderpreis für phantastische Literatur Seraph (Buchmessebericht).
Katharina Hartwell - Seraph-Verleihung

 


Werbung

Katharina Hartwell: Das fremde Meer

Einzelband
Gebundene Ausgabe: 576 Seiten
Verlag: Berlin Verlag (16. Juli 2013)
ISBN-10: 382701137X
ISBN-13: 978-3827011374
Preis: € 19,95 [D]
Rezensionsexemplar
Cover Das fremde Meer Katharina Hartwell
Cover © Berlin Verlag

4 Kommentare

  1. Das Buch steht schon lange auf meiner Wunschliste und ich freue mich über diese ausführliche Rezension 🙂 Jetzt habe ich zumindestens eine grobe Vorstellung von dem was mich erwartet wenn ich es endlich lesen kann 🙂

    1. Das freut mich sehr! Ich hatte vorher auch wenig Vorstellung davon. Es ist schon etwas ganz Besonderes, aber eben auch nichts für Zwischendurch. 🙂 Ich bin gespannt, was Du dazu sagst.

  2. Pingback: (Die Sonntagsleserin) KW #19 – Mai 2014 | Bücherphilosophin.
  3. Pingback: Sonntagsleser: Blog-Presseschau 11.05.2014 (KW19) | buecherrezension

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert